Donnerstag, 20. November 2025

Sten, Viveca – Lügennebel (Die Åre-Morde, 4)

Über die Autorin

Viveca Sten ist eine der bekanntesten schwedischen Krimiautorinnen der Gegenwart. Mit ihrer Familie lebt sie nördlich von Stockholm. Seit ihrer Kindheit verbringt sie jeden Sommer auf Sandhamn in den Schären. Im Winter aber reist sie zum Skifahren nach Åre – dem Schauplatz ihrer aktuellen Reihe.
Die Verfilmung der Åre-Morde stand auf Platz 1 der Netflix-Charts, ihre Sandhamn-Krimis lieferten den Stoff für die Beliebte TV-Serie »Mord im Mittsommer«.
Viveca Stens Bücher gehören zu den erfolgreichsten Krimiserien aus Skandinavien und erscheinen in über 25 Ländern.


Lügennebel


Kategorie: Thriller – Schweden, Åre
Erstausgabe: Gebundene Ausgabe (10/25; 528 S.)
Schlagworte: Semesterferien, Alkohol, Drogen, Private Gefühle
Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️/5


Ein neuer Fall der Polarkreis-Reihe

Die Åre-Morde um die beiden Ermittler Hanna Ahlander und Daniel Lindskog gehen in die vierte Runde. Die ersten drei Bände wurden mittlerweile verfilmt und sind auf Netflix zu sehen.


Semesterferien mit Folgen

Sechs befreundete Studenten wollen die Semesterferien nutzen und eine Woche ausspannen beim Skifahren im schwedischen Bergdorf Åre. Dort gehört den Eltern von William (Wille) Löwengren ein Ferienhaus mit einem angrenzenden Blockhaus. Schon auf der Zugfahrt von Uppsala nach Åre gibt es erste Spannungen zwischen Fanny, Olivia, Wille, Emil, Pontus und Amir. Ähnlich einem Kammerspiel hat das Miteinander eine psychologische Komponente und der Schwerpunkt liegt auf der Wirkung der Gespräche zwischen den Figuren.


Alkohol und Drogen

Gleich am ersten Abend veranstalten die jungen Studenten in dem Feriendomizil eine wilde Party. Schnell steigt der Alkoholspiegel und die Hemmschwelle sinkt. Drogenkonsum kommt hinzu. Sie grölen und schreien, nehmen keinerlei Rücksicht auf die Nachbarschaft. Das erzürnt den unmittelbaren Nachbarn Åke Carlsson. Er geht hinüber, um von den Jugendlichen Rücksicht einzufordern. Aber diese nehmen ihn gar nicht ernst. Eines der Mädchen greift ihm sogar zwischen die Beine.

Am darauffolgenden Morgen liegt eine der beiden jungen Frauen nur leicht bekleidet tot vor dem Haus im eiskalten Schnee. Es gibt zunächst keine Anzeichen dafür, ob es sich um einen Unfall oder ein Tötungsdelikt handelt.


Widersprüchliche Aussagen

Die Freunde können gegenüber den Ermittlern Hanna und Daniel nicht glaubhaft schildern, was in jener verhängnisvollen Nacht geschah. Einer von ihnen hat im Internet nach Begriffserklärungen für Mord, Totschlag und Strafmilderung gesucht. Außer Ihnen machen sich auch der Hausmeister Staffan Berg, Peter Carlsson, der Sohn der Carlssons und dessen Vater Åke Carlsson selbst verdächtig. Peter Carlsson hat schon einmal wegen sexueller Belästigung vor Gericht gestanden. Mit solchen Andeutungen wird der Leser gekonnt in die Irre geführt.


Das Misstrauen in der Clique wächst

Immer, wenn die Handlung zur Clique in Åre wechselt, wird es düster und atmosphärisch. Keiner traut dem anderen, mit zunehmender Zeit wächst das Misstrauen untereinander. Mit Äußerungen und Vermutungen wird zusätzlich Unruhe verbreitet. Mit jeder ungeklärten Frage steigt die Spannung unter den Freunden. Alle spielen sich gegeneinander aus, niemand kann glaubhaft darlegen, was in jener verhängnisvollen Nacht geschah.


Die Ermittler

Die private Situation der Ermittler ist oft ein Thema. Hanna und Daniel sind ein eingespieltes Team. Bei beiden Figuren ist eine gewisse Ambivalenz unverkennbar. Ihr privater Gemütszustand ist geprägt von einem inneren Konflikt. Hanna wünscht sich manchmal, mehr für Daniel zu sein als nur eine Kollegin. Mittlerweile ist sie aber in einer neuen Beziehung mit einem milliardenschweren Finanzinvestor. Die Polizistin und der Investor, der wesentlich älter als Hanna ist – kann das gut gehen?

Daniel lebt von seiner Partnerin Ida getrennt. Beide haben ein gemeinsames Kind, die zweijährige Alice. Sie teilen sich das Sorgerecht, was eine große Herausforderung für einen Polizisten ist. Es wird deutlich, dass das nicht funktionieren kann. Daniel hat seine Arbeit immer über das Privatleben gestellt, das hat Ida gehasst, was letztlich zum Bruch der Beziehung geführt hat. Auch Daniel hat in gewisser Weise Sympathien für Hanna entwickelt.

Der dritte im Bund der Ermittler ist Anton. Seine privaten Probleme sind anders gelagert. Vor ein paar Jahren hat er Carl kennengelernt. Der war ein wichtiger Zeuge in einem früheren Mordfall. Die beiden sind mittlerweile ein Paar, aber Anton traut sich nicht, die Beziehung öffentlich zu machen. Das entwickelt sich zu einer Zerreißprobe.


Ein Ende, dass überrascht

Es steckt viel Konfliktpotential bei den Geschehnissen rund um das Ferienhaus in Åre mit den Studenten und den privaten Problemen der Ermittler. Das hat die Autorin geschickt miteinander verwoben. Die Auswertung der Spuren, die Zeugenbefragungen und die psychologischen Auswirkungen auf die Beteiligten setzen sich Teil für Teil wie bei einem Puzzle zusammen. Trotz der privaten »Störgeräusche« sind die Ermittler professionell genug, um sich von ihrer Arbeit nicht ablenken zu lassen. So kommt es langsam zur Auflösung, die dann umso überraschender ist.


Fazit

Viveca Sten präsentiert im vierten Fall der Åre-Morde einen Whodunit-Thriller mit einem überraschenden Ausgang. Wenn man auch bereits bekannten Figuren wieder begegnet, ist die Handlung in sich abgeschlossen und dieser Teil kann ohne Vorkenntnisse der anderen Bände gelesen werden.
Der Plot besteht aus kurzen Kapiteln mit häufigen Perspektivwechseln und Cliffhangern. Für meinen Geschmack waren die Kapitel manchmal zu kurz, wenn sie lediglich eine Länge von einer oder zwei Seiten hatten.
Einzig zu bemängeln an diesem gut durchdachten und stimmigen Thriller ist die Tatsache, dass das Buch mit vielen Klischees endet. Das hat den sehr guten Gesamteindruck etwas geschmälert.
 
Quellenangaben
Text über die Autorin: Schutzumschlag © dtv Verlagsgesellschaft mbH München, 2025
Buchcover: Bildrechte gehören dem jeweiligen Verlag


Freitag, 7. November 2025

Adler-Olsen, J. / Holm, L. / Bolther, S. – Tote Seelen singen nicht (Sonderdezernat Q, 11. Band)

Über die Autoren

JUSSI ADLER-OLSEN, Jahrgang 1950, Autor seit 1997, hat eine der weltweit erfolgreichsten Thriller-Reihen geschrieben. Seine preisgekrönten und mehrfach verfilmten Thriller erscheinen in 45 Sprachen.
LINE HOLM, Jahrgang 1975, arbeitet seit über 20 Jahren als preisgekrönte Investigativjournalistin und Buchautorin. Gemeinsam mit Stine Bolther veröffentlicht sie unter anderem die international erfolgreiche Thriller-Reihe um Kriminalhistorikerin Maria Just.
STINE BOLTHER, Jahrgang 1976, ist Journalistin, Autorin, Podcast- und TV-Moderatorin und arbeitet seit über 25 Jahren als Gerichts- und Kriminalreporterin.

 

Tote Seelen singen nicht

Kategorie: Thriller – Dänemark, Kopenhagen
Erstausgabe: Gebundene Ausgabe (10/25; 560 S.)
Schlagworte: Cold Cases, Knabenchor, Neid, Rachefeldzug
Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️/5



Neues Autorentrio

2024 sollte nach über zehn Jahren eigentlich Schluss sein mit einer der weltweit erfolgreichsten Thrillerserien. Nun geht es also doch weiter mit dem nunmehr 11. Band der Serie. Mit Unterstützung des Bestsellerduos Line Holm und Stine Bolther ermittelt das Sonderdezernat Q in einem neuen Fall.


Änderungen in der Besetzung

Das Autorentrio behält den bisherigen Stil bei, auch was kleine humoreske Einlagen betrifft. Die Besetzung erfährt ein paar Änderungen. Von den drei bisherigen Figuren sind lediglich die Kriminalassistenten Rosa Maria Yrsa Knudsen sowie Hafez el-Assad mit syrischen Wurzeln übriggeblieben. Ihr ehemaliger Vorgesetzter, Vizekriminalkommissar Carl Mørck, mischt sich immer mal wieder in das Geschehen ein. Terje Ploug heißt der neue Chef und hat den Posten von Marcus Jacobsen übernommen.

Helena Henry ist die Neue im Team und soll die Nachfolge von Carl antreten. Sie ist von der Abteilung »Organisiertes Verbrechen« der französischen Polizei in Lyon nach Kopenhagen gewechselt. Bruchstückhaft erfahren wir im weiteren Verlauf, was der Grund dafür ist, dass sich Helena hat versetzen lassen. Aber sie ist enttäuscht darüber, in diesem Dezernat zu landen und möchte auf gar keinen Fall dortbleiben. 

Rose kann Helena von Anfang an nicht leiden und vermutet, dass etwas an deren Versetzungsgeschichte nicht stimmen kann. Sie ist wie gewohnt übellaunig und spart nicht mit bissigen Kommentaren. Aber sie klagt auch über ständige Übelkeit. Assad trauert den alten Zeiten unter Mørck nach, mit dem er sich immer gut verstanden hat. Trockener Humor und Pointen in den Kommentaren vermisst man.

Drei Jahre ist es her, dass der ehemalige Vizekriminalkommissar Carl Mørck unschuldig wegen angeblichem Mord und Drogenhandel festgenommen und inhaftiert wurde. Nach zahllosen Enttäuschungen ohne Rückhalt seiner Vorgesetzten hat er daraufhin den Dienst quittiert und schreibt seine alten Fälle auf, um sie zu veröffentlichen.


Kein klassisches Erzählformat

Das Sonderdezernat Q befasst sich mit ungelösten Kriminalfällen. Die sogenannten Cold Cases haben andere Abteilungen schon längst zu den Akten gelegt. In dem neuesten Band »Tote Seelen singen nicht« wird das klassische Erzählformat umgedreht. Der Täter ist gleich zu Beginn präsent.


Laudate Dominum

Die Erzählung startet mit einem Ereignis aus dem weiteren Verlauf der Geschichte heraus und springt immer mal wieder zurück in die Vergangenheit. Alle Spuren führen zur Laurenti-Schule, einem Internat mit einem Elite-Knabenchor aus den achtziger Jahren. Ein neuer Schüler wird in den Chor aufgenommen und keiner hat eine so glockenhelle Stimme wie dieser Junge. Er soll das »Laudate Dominum«, den berühmtesten Teil eines Chorwerkes von Mozart als Solostimme singen. Das erzürnt einen der Jungen, der eigentlich für dieses Solo vorgesehen war. Rachegedanken kommen bei ihm auf. Es ist grausam und entsetzlich, was dem folgt. Tiefe menschliche Abgründe werden dabei offenbart.


Alte Fälle werden neu aufgerollt

Bei einer Lesung von Mørck übergibt ihm eine Frau einen alten Anrufbeantworter, worauf die Aufzeichnung mit einem Hilferuf eines Seniorenpaares zu hören ist. Da Carl immer noch Kontakt zu den alten Kollegen hat, übergibt er Rose und Assad die Aufnahme. Daraufhin rollt das Sonderdezernat Fälle, die schon über dreißig Jahre zurückliegen, wieder neu auf. Bei den Ermittlungen stoßen sie auf Verbindungen zwischen einem explodierten Trawler vor der Küste Jütlands, dem Tod einer Patientin in einer Schönheitsklinik durch eine mit Fentanyl präparierte Abnehmspritze sowie einer Unfallfahrt eines hochrangigen Politikers mit Todesfolge.

Wenn man sich an jemandem rächen will, bringt man ihn nicht um. Man nimmt das Umfeld ins Visier. Damit zu leben ist viel schlimmer, als selbst zu sterben.


Bewährter Spannungsaufbau

Ein bewährter Spannungstrick von Autoren – kurze Kapitel mit Figuren- und Ortswechseln erhöhen die Cliffhangerdichte. Und davon gibt es genug in diesem Thriller. Der letzte Cliffhanger am Ende lässt den Leser ungläubig zurück. Man erfährt am Rand, dass die Bände 12 und 13 bereits in Arbeit sind. Damit darf man auf eine Auflösung dieses Cliffhangers gespannt sein.


Fazit

Jussi Adler-Olsen hat mit »Tote Seelen singen nicht« das Fortbestehen seiner erfolgreichen Serie um das Sonderdezernat Q mit Hilfe des Autorenduos Line Holm und Stine Bolther vorbereitet. Es liegt die Vermutung nahe, dass Holm und Bolther das literarische Erbe von Jussi Adler-Olsen antreten sollen, nachdem dieser im Februar 2025 seine unheilbare Erkrankung öffentlich gemacht hat. Man weiß nicht, wieviel von Adler-Olsen in diesem 11. Band steckt.
Das Setting ist plausibel. Trotz häufiger Wechsel der Handlungsabläufe kann man den Überblick behalten. Die Kapitel wechseln zwischen den verschiedenen Figuren, mit deren Namen sie jeweils überschrieben sind. Manchmal treten auch die potenziellen Opfer und Nebenfiguren in den Mittelpunkt eines Kapitels.
Eine autarke Einheit der Polizei in Kellerräume abzuschieben, die sich mit Fällen beschäftigt, die andere Polizeieinheiten längst abgeschlossen haben, ist offenbar ein Anreiz zur Nachahmung. So hat der schwedische Autor Anders de la Motte unlängst sein »Dezernat der hoffnungslosen Fälle« um die Ermittlerin Leo Asker unten im Keller des Polizeigebäudes angesiedelt.
 
Quellenangaben
Text über die Autoren: Schutzumschlag © Verlagsgruppe Penguin Random House Verlagsgruppe München, 2025
Buchcover: Bildrechte gehören dem jeweiligen Verlag

Dienstag, 21. Oktober 2025

Slaughter, Karin – Dunkle Sühne (North Falls, 1)

Über die Autorin

Karin Slaughter ist eine der weltweit berühmtesten Autorinnen und Schöpferin von über 20 New York Times-Bestseller-Romanen. Dazu zählen »Cop Town«, der für den Edgar Allan Poe Award nominiert war, sowie die Thriller »Die gute Tochter« und »Pretty Girls«. Ihre Bücher erscheinen in 120 Ländern und haben sich über 40 Millionen Mal verkauft. Ihr internationaler Bestseller »Ein Teil von ihr« ist 2022 als Serie mit Toni Collette auf Platz 1 bei Netflix eingestiegen. Eine Adaption ihrer Bestseller-Serie um den Ermittler Will Trent läuft derzeit erfolgreich auf Disney+, weitere filmische Projekte werden entwickelt. Slaughter setzt sich als Gründerin der Non-Profit-Organisation »Save the Libraries« für den Erhalt und die Förderung von Bibliotheken ein. Die Autorin stammt aus Georgia und lebt in Atlanta.


Dunkle Sühne


Kategorie: Thriller – USA, Georgia
Erstausgabe: Gebundene Ausgabe (07/25; 560 S.)
Schlagworte: Entführung, Trauer, Wut, Psychopathen
Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️/5


Independence Day

Mit »Dunkle Sühne« präsentiert Karin Slaughter den ersten Band aus einer neuen Reihe. Das Buch ist in zwei Zeitebenen unterteilt. Es ist der 4. Juli – der Nationalfeiertag der Vereinigten Staaten von Amerika. Wie jedes Jahr, wird auch in diesem Jahr der Tag der Unabhängigkeit gefeiert. Die Kleinstadt North Falls mit ihren weniger als tausend Einwohnern ist auf den Beinen, um sich das bevorstehende Feuerwerk anzuschauen.


Der Broken-Angel-Fall

An diesem Tag verschwinden die beiden fünfzehnjährigen Teenager Madison Dalrymple und Cheyenne Baker. Zwei Freundinnen, die nur sich selbst hatten und keinen Zugang zu anderen Gleichaltrigen suchten. Beide Mädchen haben schlechte Charaktereigenschaften in sich vereint. Sie sind aufmüpfig in der Schule, geben ständig Widerworte, passen nicht auf im Unterricht und sind abgelenkt durch ihre Handys. Cheyenne ist meist die Rädelsführerin und alles andere als ein »unbeschriebenes Blatt«.

Die Einwohner der Kleinstadt North Falls sind in Aufruhr. Chief Deputy Gerald Clifton und seine Tochter Deputy Emma Clifton sowie das hinzugezogene FBI arbeiten auf Hochtouren daran, den oder die Täter zu ermitteln. Man entdeckt die Fahrräder der beiden Mädchen, ein zerstörtes Handy und Blut am Fundort.

Madison wollte an besagtem 4. Juli noch mit Emmy sprechen und sie um Hilfe bitten, aber die hatte keine Zeit. Später macht sie sich große Vorwürfe. Madisons Stiefmutter Hannah ist außer sich vor Wut und Verzweiflung, als sie davon hört. Hannah und Emmy waren Freundinnen seit Kindheitstagen, aber jetzt hat Hannah mit ihr gebrochen.


Zwölf Jahre später

Chief Deputy Gerald Clifton ist mittlerweile sechsundachtzig und immer noch im Dienst. Neben ihm und Tochter Emmy ist nun auch Emmys Sohn Cole als Deputy tätig. Der körperliche Verfall von Gerald ist nicht zu übersehen. Man wird erfahren, dass er an Krebs erkrankt ist und seine noch vorhandene Lebenszeit begrenzt ist. Die Alzheimer-Erkrankung im Endstadium von Geralds Frau Myrna belastet die ganze Familie schwer. Obwohl sie sich die Pflege aufteilen, muss sie letztlich in ein Heim. Die belastende Atmosphäre innerhalb der Familie hat Slaughter gut eingefangen.


Die Suche nach dem Entführer

Slaughter versteht es, Spannung aufzubauen, wenn der Anfang auch etwas träge ist. Sie legt verschiedene Spuren zu Personen, die als Täter infrage kommen. Einer davon, Adam Huntsinger, wird aufgrund von Indizien verurteilt. Nachdem er zwölf Jahre in der Todeszelle abgesessen hat, wird er auf Bewährung freigelassen. (Anm.: Das wirkt ziemlich konstruiert und nicht nachvollziehbar). Bald darauf verschwindet wieder ein Mädchen in North Falls. Dies gleicht demselben Muster wie die beiden zurückliegenden Vermisstenfälle. Nach den bisherigen Ermittlungen muss man davon ausgehen, dass es nicht nur einen Täter gibt, sowohl für den zurückliegenden als auch den aktuellen Fall.


Die totgeglaubte Schwester taucht wieder auf

Nach vielen Jahren taucht Emmys totgeglaubte ältere Schwester Martha wieder auf, die von dem neuen Vermisstenfall der jungen Paisley Walker in North Falls gehört hat. Die beiden Schwestern sind nicht gut aufeinander zu sprechen. Aus Emmys Sicht kann man fast von Hass sprechen. Emmys Verhalten lässt erkennen, dass sie aufgrund der vorangegangenen Ereignisse ein Trauma durchlebt. Martha Judean, die sich jetzt nur Jude nennt, reißt die Ermittlungen an sich, wie sie es aus ihrer Zeit als FBI-Agentin in San Francisco gewohnt war. Sie ist mittlerweile siebenundfünfzig Jahre alt und damit im obligatorischen Ruhestandsalter beim FBI. Die Vermutung liegt nahe, dass sie nach einer neuen Herausforderung sucht und wieder Kontakt zu ihrer Familie sucht.


Eine »SoKo« im Familienkreis

Mit Jude kommen neue Ermittlungsansätze. Auch die beiden zurückliegenden Vermisstenfälle von vor zwölf Jahren werden mit einbezogen. Ein Täterprofil wird erstellt. Gesucht wird ein weißer Mann. Er ist in einer Position, die Bildung oder eine Ausbildung erfordert. Er hat häufig Kontakt zu Kindern und genießt eine
Vertrauensstellung in der Gemeinde. Slaughter versteht es geschickt, mehrere Spuren auszulegen.

Emmy und Jude stellen ihre Ressentiments in den Hintergrund, zudem ist Jude angetan von Emmys Sohn Cole, wie er sich in die Ermittlungen einbringt. Die Spannung zieht spürbar an. Fast kommt die Auflösung zu früh, was wieder einen Spannungsabfall bedeutet hätte. Aber Slaughter ist es mit einem Twist gelungen, für eine Überraschung zu sorgen und damit die Spannung hochzuhalten.


Jeder ist in irgendeiner Weise schuldig

In diesem Thriller begegnen einem pädophile, psychopatische und andere »kaputte« Charaktere. Anders kann man es sich nicht erklären, wenn jemand seinen eigenen Sohn ans »Messer« liefert, um nicht in Verdacht zu geraten. Slaughter versteht es, die einzelnen Charaktere bildgewaltig zu beschreiben. So wird dem Leser klar ersichtlich, wer auf der Seite der »Guten« und der »Bösen« steht. Viele persönliche Begebenheiten bezieht die Autorin in die Handlung mit ein, die traurig stimmen und für Entsetzen sorgen.


Fazit

Die fiktive Kleinstadt North Falls im US-Bundesstaat Georgia könnte durchaus auch Clifton-Town heißen mit ihren vielen miteinander verwandten Einwohnern. Die ganze Szenerie wird beherrscht von menschlichen Abgründen und Tragödien. Deren Tragweiten werden erst nach und nach offengelegt.
Der Titel der englischen Originalausgabe »We are all guilty here« (Wir sind alle schuldig hier) könnte die Lage in dieser Kleinstadt nicht besser ausdrücken.
Lange Kapitel ohne eingeschobene Absätze nehmen die Spannung etwas heraus. Der Text hätte gestrafft werden können, um das Wesentliche noch besser zur Geltung zu bringen. Eine Anhäufung von Figuren kann man als leichten Störfaktor empfinden. Der Schreibstil ist flüssig und die Handlung ist vielschichtig.
Dieses Buch ist für hartgesottene Thrillerfans zu empfehlen.
 
Quellenangaben
Text über die Autorin: Schutzumschlag © Verlagsgruppe HarperCollins Hamburg, 2025
Buchcover: Bildrechte gehören dem jeweiligen Verlag
 

Montag, 6. Oktober 2025

Hausmann, Romy – Liebes Kind

Über die Autorin

Romy Hausmann wurde 1981 geboren. Ihr erster Thriller »Liebes Kind« stand viele Wochen lang auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Das Buch wurde in 20 Länder verkauft. Für »Liebes Kind« erhielt Romy Hausmann den Crime Award Cologne 2019. Ihr zweiter Thriller »Martha schläft« ist im April 2020 erschienen und hat ebenfalls sofort den Sprung in die SPIEGEL-Bestsellerliste geschafft. Beide Thriller werden verfilmt. Romy Hausmann wohnt mit ihrer Familie in einem abgeschiedenen Waldhaus in der Nähe von Stuttgart.


Liebes Kind


Kategorie: Thriller – München, Germering
Erstausgabe: Paperback (10/20; 432 S.)
Schlagworte: Entführung, Gefangenschaft, Regeln, Macht
Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️/5

 

Die perfekte Tarnung

In einer Hütte im Wald zwischen bayerisch/tschechischem Grenzgebiet hält ein Mann eine Frau und zwei Kinder gefangen. Die Fenster der Hütte sind mit Dämmplatten verschlossen, so dass kein Licht eindringen kann und man von außen keinen Einblick hat. Die nötige Luftversorgung erfolgt über einen Zirkulationsapparat. Ist der Entführer ein Psychopath oder versucht er, ein bestehendes Trauma zu bewältigen?

 

Ein Leben voller Zwänge

Der Mann bezeichnet die Frau und die beiden Kinder, die dreizehnjährige Hannah und den elfjährigen Jonathan, als seine Familie. Für die Kinder sind die beiden Erwachsenen ihre Eltern. Man erfährt von den Regeln, die der Mann den Dreien auferlegt hat. Es gibt feste Zeiten für die Mahlzeiten, die Toilettengänge und die Schlafenszeiten. Wenn er die Hütte verlässt, schließt er sie ab und wenn er zurückkommt, müssen die Drei unaufgefordert die Handflächen außen und innen zeigen. Wenn es seiner Meinung nach Verstöße gegen seine Vorgaben gibt, werden die »Schuldigen« sanktioniert.


Wurde Lena ihr Lebensstil zum Verhängnis?

Handelt es sich bei der Frau in der Hütte um die seit dreizehn Jahren vermisste Lena Beck? Damals war sie 23 Jahre alt. Sie war bekannt als Münchner Partygirl und keiner Männerbekanntschaft abgeneigt. Ein verlogenes, verwöhntes Gör. Sie war verantwortungslos, flatterhaft und ohne jeglichen Respekt. Von ihrem Vater Matthias wurde sie geradezu vergöttert. U.a. präsentierte er dem Bayerischen Tagblatt Lena als eine Einser-Studentin, um ihr einen Studienplatz zu verschaffen. Dabei log er für seine Tochter, die lediglich einen Notendurchschnitt von 3,9 hatte. Irgendwann in dieser Zeit muss sie dann an den Falschen geraten sein.


Liebes Kind

Für Hannah ist das Leben in der Hütte ihr Zuhause. Sie ist ein Mädchen mit einem ausgeprägten Asperger-Syndrom. Sie spricht ständig darüber, wie man sich richtig verhält. Sie könnte ein Schlüssel zur Lösung sein. Die Charakterisierung dieser Figur, die in der Ich-Form erzählt, ist mit Sicherheit eine Herausforderung für die Autorin gewesen, die sie authentisch gemeistert hat. Die Figur ihres Bruders Jonathan hingegen bleibt eher blass.


Eine Flucht mit Folgen

Nach vier Monaten Gefangenschaft gelingt der Frau zusammen mit Hannah die Flucht. Dabei läuft sie in ein Auto und wird schwer verletzt. Hannah wird später erzählen, dass der Unfallverursacher einen Notruf abgesetzt und danach weggefahren ist. Hannahs Bruder Jonathan bleibt zunächst in der Hütte zurück und das hat einen Grund. Warum hat der Unfallverursacher »Fahrerflucht« begangen?


Die Hoffnung platzt wie eine Seifenblase

Der Fall bekommt eine völlig neue Wendung, als Lenas Eltern Matthias und Karin Beck erleichtert sind über die Nachricht, dass ihre Tochter nach dreizehn Jahren verzweifelter Suche angeblich gefunden wurde und nach einem Unfall im Krankenhaus liegt. Dieses haben sie von Kommissar Brühling, einem Freund der Familie, unter Vorbehalt erfahren. Die Ernüchterung ist umso größer, als die Eltern die Frau nicht als ihre Tochter identifizieren können. Matthias ist äußerst enttäuscht darüber.

Es dauert sehr lange, bis sich die Frau von ihren Verletzungen erholt. Außerdem ist sie traumatisiert von der Zeit ihrer Gefangenschaft. Man erfährt aus Ich-Erzählungen, dass ihr Name Jasmin ist. Ganz langsam kommen durch Flashbacks Erinnerungen zurück, u.a. wer sie entführt hat und wie ihr die Flucht gelungen ist.


Ein Vater am Rande der Verzweiflung

Matthias Beck erzählt wie Hannah und Jasmin in der Ich-Form. Er ist ein Vater, der völlig verzweifelt auf der Suche nach seiner Tochter ist. Er wird sogar wegen Körperverletzung verurteilt, weil er den Ex-Freund seiner Tochter geschlagen hat. Er verdächtigt Mark Sutthoff, hinter der Entführung von Lena zu stecken. Der hat allerdings ein stichhaltiges Alibi. Außerdem gerät Matthias immer wieder mit seinem Freund Kommissar Brühling aneinander, da der seiner Meinung nach nicht in der Lage ist, seine Tochter wiederzufinden. Brühling leitet auch jetzt wieder die Ermittlungen in dem Vermisstenfall – so wie damals vor dreizehn Jahren.


Unfassbares Szenario nähert sich der Aufklärung

Vieles bleibt im Dunkeln über einen längeren Zeitraum. Häufige Perspektivwechsel sorgen für Verwirrung. Eine Person kommuniziert mit einer nicht präsenten Person mittels Ich-Botschaften. Sie vertritt dabei ihren eigenen Standpunkt und ihre Gefühle. Erst nach und nach kommen die Zusammenhänge und Klarheit nicht zuletzt durch eingefügte Zeitungsartikel ans Licht. Die Einzelheiten setzen sich dabei zusammen wie Puzzleteile.


Wahn oder Wirklichkeit

Was ist Macht – vier starre Wände? Wenn man die einsperrt, die man angeblich liebt, und Strafen verteilt bei Nichtbeachtung von Anweisungen? Wie krank muss jemand sein, um so mit Menschen umzugehen, die man angeblich liebt?


Fazit

Mit ihrem Debütroman aus dem Jahr 2020 landete Romy Hausmann einen Volltreffer und legte die Messlatte ziemlich hoch. Es ist erstaunlich, wie viele Kriterien sie miteinander verbindet und wie viel Innovation in diesem Psychothriller steckt. Es ist eine perfekte Mischung aus »Raum« (E. Donoghue) und »Gone Girl« (G. Flynn).
Dieser Thriller ist vielschichtig und sorgt mit häufigen Perspektivwechseln für einen hohen Spannungslevel. Der Plot ist temporeich und lässt keine Längen aufkommen. Cliffhanger halten die Spannung hoch und steigern die Spannungskurve zum Ende hin zusätzlich.
Obwohl das Setting mit einer Hütte im Wald als »Gefängnis« nicht neu ist, besticht dieses Buch durch sein psychologisches Verwirrspiel.
Wenn ein Buch als Serie verfilmt wird, wie es bei »Liebes Kind« der Fall ist (auf Netflix zu sehen), dann ist das wie ein Ritterschlag für eine Autorin bzw. einen Autor. Dieser Thriller hebt sich deutlich ab von anderen psychologischen Thrillern. Ein absolutes »Must read« für Thrillerfans.
 
Quellenangaben
Text über die Autorin: Klappentext © dtv Verlagsgesellschaft München, 2020
Buchcover: Bildrechte gehören dem jeweiligen Verlag
 

Mittwoch, 24. September 2025

Wahl, Caroline – Die Assistentin

Über die Autorin

Caroline Wahl wurde 1965 in Mainz geboren und ist eine deutsche Schriftstellerin. Ihr Debütroman »22 Bahnen« aus dem Jahr 2023 wurde ein großer Verkaufserfolg und erhielt zahlreiche positive Kritiken und Preise. Auch das Nachfolgewerk »Windstärke 17« wurde zum Erfolg.
Caroline Wahl wuchs als Tochter eines Chirurgen und einer Grundschullehrerin mit drei Geschwistern in Schriesheim in der Nähe von Heidelberg auf und studierte Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin. Danach war sie unter anderem als Verlagsassistentin für den Diogenes Verlag in Zürich tätig. In dieser Zeit schrieb Wahl innerhalb von drei Monaten ihren ersten Roman »22 Bahnen«. 2022 zog sie nach Rostock, wo sie für eine Kommunikationsagentur tätig war, und lebte dort als freie Schriftstellerin. Im Herbst 2024 zog sie nach Kiel.


Die Assistentin


Kategorie: Roman – München, Köln
Erstausgabe: Gebundene Ausgabe (08/25; 368 S.)
Schlagworte: Buchverlag, Assistentin, Resilienz, Musikkarriere
Meine Bewertung: ⭐️⭐️/5

 

Traumjob oder Beruf wider Willen

Obwohl Charlotte gerne ins Musik-Business einsteigen möchte, bewirbt sie sich auf eine Assistenzstelle in einem renommierten Münchner Buchverlag. Ihre Eltern haben ihr von einem Musikstudium abgeraten und ermuntern sie zu der Bewerbung. Sie bekommt die Stelle der zweiten Assistentin und zieht daraufhin von Köln nach München. Eine Wohnung in einem heruntergewirtschafteten Haus, wo es auch schon einmal einen Toten gab, ist ihr neues Zuhause. Das einzige Highlight ist der Blick auf die Isar. Wasser spielt wieder eine Rolle wie in den beiden vorherigen Büchern von Wahl.


Maise hat eine »Meise«

Die Assistentinnen in dem Buchverlag von Verleger Ugo Maise werden oft ausgetauscht. Er fordert viel von seinen Mitarbeiterinnen. Nach nur drei Tagen ist es schon so weit. Die Arbeitsweise seiner neuen Assistentinnen Charlotte Scharf und Ivana Trautwein gefällt ihm nicht. Dabei spielt er die Beiden niederträchtig gegeneinander aus. Sie werden gekündigt, wovon nach dem Wochenende plötzlich keine Rede mehr ist. Maise ist ein Exzentriker, der im wahrsten Sinn des Wortes eine »Meise« hat. Keine andere Meinung neben seiner lässt er gelten und wenn nicht alles so läuft, wie er sich das vorstellt, wird er schnell ungehalten und wütend.

Die Personalchefin Alexandra Liebig gibt sich immer verständnisvoll gegenüber Charlotte und nennt Sie »Mäuschen«. Sie will Maise auf sein Verhalten gegenüber Charlotte ansprechen, was aber nie geschieht.


Ein Leben wie in einem Hamsterrad

Charlottes Leben läuft stupide in geordneten Bahnen ab. Einstempeln früh morgens im Verlag und spät abends ausstempeln. Nach Hause fahren, essen, laufen, fernsehen, zu Bett gehen. Zwischendurch arbeitet sie an einem Musikalbum, dass sie veröffentlichen möchte. Sie hat ihren Traum noch nicht aufgegeben. Und dabei ist sie ständig in »Hab-Acht-Stellung«, ob sich ihr Chef meldet mit irgendeiner dringenden Erledigung. Sie arbeitet sehr gewissenhaft und das zermürbt sie in zunehmender Weise. Dieser Abwärtstrend in ihrer Psyche wird gut herausgearbeitet.

Ihr Leben ist ein ständiger Kampf um Aufmerksamkeit. Manchmal ist sie froh über ihren Job als Assistentin im Verlag, hauptsächlich wenn sie Lob von ihrem Chef bekommt. Ein anderes Mal möchte sie alles am liebsten hinwerfen, wenn Maise Kritik an ihrer Arbeit übt (die nicht immer berechtigt ist).  Auch wenn Freundschaften nicht so ihres sind, lernt sie einen gewissen Bo kennen, zu dem sie sich hingezogen fühlt.


Die Isar als Rückzugsort

Wenn Charlotte nicht mehr weiterweiß und sich entspannen will, zieht sie kurzerhand ihre Laufsachen an, um entlang der Isar den Kopf freizubekommen. Manchmal flüchtet sie auch nach Hause zu ihren Eltern in eine vertraute Umgebung. Aber schnell fühlt sie sich auch dort wieder eingeengt und bevormundet, zumal sie ihren Eltern eine Mitschuld darangibt, dass sie sich in dem Verlag beworben hat. Ist sie in München, telefoniert sie oft mit ihrer Mutter, um dann das Gespräch wütend zu beenden, wenn die nicht ihrer Meinung ist.


Stilblüten und Produktwerbung

Die Schreibstruktur ist nicht überzeugend. Mehrmals wird ein Thema begonnen, um dann mit der Floskel »Aber dazu später mehr« zu enden. Warum kann dies nicht gleich final beschrieben werden? Eine weitere Floskel »Alles der Reihe nach« soll wohl auf eine geordnete Reihenfolge hinweisen, die man dann aber vermisst.

Als Stilmittel lässt die Autorin Produktnamen mit in die Handlung einfließen (Storck, Langnese, Paulaner usw.). Das kennt man schon aus ihren vorherigen Büchern. Ebenso gibt es wieder Textabschnitte in Dialogform. Ein Tick dabei: Sie beginnen als Kürzel (
»mu« für den Verleger Maise und »sch« für Charlotte).


Ende gut – alles gut?

Wahl geht auf Sachverhalte ein, die erst in der Zukunft zu lokalisieren sind. So wird schon auf den ersten Seiten vorweggenommen, wie die Anstellung in dem renommierten Münchner Buchverlag enden wird. In der Summe wirkt es nicht wie ein gut durchdachter Plot.

Nachdem es schlussendlich zu einem Eklat zwischen dem Verleger und Charlotte wegen einer nicht abgeschlossenen Dachbodenkammer kommt, lässt sie sich krankschreiben. Die Ärztin teilt ihr mit, dass sie während einer Krankschreibung nicht gekündigt werden kann. Hier irrt Caroline Wahl (Quelle: https://www.kanzlei-hasselbach.de/). Sie wird den Verlag nie wieder betreten. Wir erfahren nicht, ob Charlotte irgendwann von selbst kündigt, wovon aber auszugehen ist. Das Buch endet abrupt mit einem Hinweis und einem Cut. Hier hätte man mehr erwartet.


Fazit

Man kommt nicht umhin darüber nachzudenken, ob Wahl beim Schreiben eigene Erfahrungen von ihrer Zeit als Verlagsassistentin in einem Züricher Buchverlag mit eingebracht hat.
Es fällt schwer, dieses Buch als Roman zu bezeichnen. Ich sehe es eher als eine Art aneinandergereihte Prosatexte mit einer trockenen und nüchternen Darstellungsweise. Eine vereinfachte Form des Storytellings gibt die Erlebnisse der Protagonistin Charlotte wieder. Das Buch wird auktorial aus ihrer Sicht erzählt.
Ich war auf diesen dritten Roman von der Autorin gespannt. Nun komme ich zu der Erkenntnis, dass sich Caroline Wahl leider nicht weiterentwickelt hat. Im Gegenteil, die Klasse ihrer ersten beiden Romane konnte sie nicht halten. Trotz allem wird dieses Buch polarisieren, dessen bin ich mir sicher.
 
Quellenangaben
Text über die Autorin: Wikipedia
Buchcover: Bildrechte gehören dem jeweiligen Verlag
 

Dienstag, 16. September 2025

Lawhon, Ariel – Der gefrorene Fluss

Über die Autorin

Ariel Lawhon ist eine von der Kritik gefeierte New York Times-Bestsellerautorin. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vorgestellt von Library Reads, One Book One County, Indie Next, Costco, Amazon Spotlight und Book of the Month Club.
Sie lebt in den sanften Hügeln außerhalb von Nashville, Tennessee, mit ihrem Ehemann und vier Söhnen. Ariel teilt ihre Zeit zwischen Supermärkten und Baseballfeld auf.
(Schutzumschlag © Adrian & Wimmelbuchverlag GmbH Berlin, 2024)


Der gefrorene Fluss


Kategorie: Historischer Roman – USA (Maine, Oxford)
Erstausgabe: Gebunden (11/24; 560 S.)
Schlagworte: Eingeschränkte Frauenrechte, Tagebuch, Vergewaltigung, Patriarchat
Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️/5


Fiktion und Realität

In diesem historischen Roman von Ariel Lawhon werden sowohl fiktive als auch reale Begebenheiten fein miteinander verwoben. Sie gewährt dem Leser bzw. der Leserin einen eindrucksvollen Einblick in eine Zeit von vor über 200 Jahren. Es ist unverkennbar, dass die Autorin viel Recherchearbeit in dieses Buch gesteckt hat.


Ein Leben für die Familie und den Beruf

Wir erfahren über das Leben von einer Hebamme und Heilerin, die Ende des 18. Jahrhunderts im US-Bundesstaat Maine gelebt hat. Martha Ballard erzählt sie aus ihrer Perspektive. Sie ist vierundfünfzig Jahre alt und seit fünfunddreißig Jahren mit Ephraim verheiratet. Sie hat in dieser Zeit neun Kinder geboren, wovon sechs überlebt haben. Drei ihrer Kinder starben an Diphterie. Eine Krankheit, die auch der »Würgeengel der Kinder« genannt wurde. Liebe, Zusammenhalt, Verständnis füreinander aber auch für andere Personen kommen immer wieder zum Ausdruck.

In verschiedenen Rückblenden über mehrere Jahrzehnte verteilt, erfahren wir mehr über das Leben der Ballards. Fünf ihrer sechs Kinder leben noch zu Hause. Lucy, die älteste Tochter ist ausgezogen. Sie ist verheiratet und hat schon sieben Kinder. Ihr Sohn Cyrus kann nicht sprechen und verständigt sich mit Zeichensprache oder macht Notizen auf einem Zettel. Martha hängt in ihren Gedanken immer wieder dem eigenen Ende nach.


Ein eiskalter Winter

Die Geschichte wird verteilt über sechs harte Wintermonate von November bis April, beginnend im Jahr 1789 erzählt. Ein eiskalter November führt dazu, dass der Kennebec River schnell zufriert. Man entdeckt die Leiche eines Mannes im Fluss. Nach der Bergung wird Martha Ballard gerufen, um die Todesursache festzustellen. Für sie ist schnell klar, dass es sich um Mord handelt. Eindeutige Strangulationsmerkmale am Hals deuten auf Erhängen hin. Doch der neue Arzt in der Kleinstadt Hallowell, Dr. Benjamin Page, geht von einem Unfalltod aus. Es wird weder ein Seil noch ein Strick gefunden, der Marthas These bestätigen würde. So leicht gibt sie aber nicht auf und will beweisen, dass sie Recht hat.

Eine junge Frau wurde vergewaltigt und aus Scham möchte sie zunächst nicht darüber sprechen. Mit ihrer einfühlsamen Art gelingt es Martha jedoch, dass die Frau sich ihr gegenüber öffnet. Sie erfährt, dass es sich bei dem Vergewaltiger um den Mann handelt, der jetzt tot aus dem Fluss geborgen wurde.


Lesen und Schreiben – ein Privileg

Von ihrem Mann hat sie Lesen und Schreiben gelernt. Die Rechte der Frauen sind sehr stark eingeschränkt, aber ihre Arbeit ermöglicht Martha eine besondere Stellung in der Gesellschaft. Feder, Tinte und ein Tagebuch, in dem sie ihre Arbeiten als Hebamme und Heilerin niederschreibt, sind ihre ständigen Begleiter. Manchmal teilt sie dem Leser/der Leserin mit, was sie im Tagebuch niedergeschrieben hat (Passagen im Buch kursiv geschrieben).


Bildgewaltige Figurenzeichnung

Die Figur der Martha Ballard wird bildgewaltig beschrieben. Sie ist eine Frau am Rande der gehobenen Gesellschaft, die sich weigert, aufgrund ihres Standes die ihr zugedachte traditionelle Rolle zu akzeptieren. Ihre Arbeit als Hebamme und Heilerin hilft ihr dabei, diese Barrieren zu durchbrechen. Sie führt einen ständigen Kampf für Gerechtigkeit und die Gleichberechtigung von Frauen. Aber auch unter den weiteren Personen kann man sich etwas vorstellen. Das beinhaltet auch die nicht so prominenten Figuren in diesem Buch.

Das Buch besticht durch ein überzeugendes Setting. Die Kapitel sind nicht übermäßig lang und werden immer mit dem Ort der Handlung überschrieben. Manchmal wird einem Kapitel ein Shakespeare-Zitat vorangestellt, um auf die folgenden Ereignisse hinzuweisen.


Fazit

Hier wird eine bewegende Geschichte erzählt, die ohne Klischees eine große emotionale Wirkung erzielt. Der Schreibstil ist flüssig und intensiv. Ariel Lawhon ließ sich von realen Ereignissen inspirieren, anstatt auf ihnen basierend zu schreiben, wie sie es ausdrückt. 
Die Handlung ist teils kriminalistisch, aber auch gesellschaftskritisch. Dabei steht ein mögliches Verbrechen und dessen Aufklärung nicht unbedingt im Mittelpunkt. Das Buch kommt ohne große Action und reißerische Aufmachung aus. Trotzdem gelingt es Lawhon von Beginn an, Spannung aufzubauen, die bis zum Ende anhält.
Man könnte den Inhalt des Buches als eine 
»biografische Fiktion« bezeichnen. Auch wenn das Nachwort über mehrere Seiten geht, sollte man es lesen. Es beinhaltet sehr viel Wissenswertes in Bezug auf diese Geschichte. Liebhaber von historischen Romanen werden hier voll auf ihre Kosten kommen. Das Buch ist sehr zu empfehlen.