Montag, 24. Juni 2024

Geschke, Linus – Wenn sie lügt

Über den Autor

Linus Geschke hat für führende deutsche Magazine und Tageszeitungen, darunter Spiegel online und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, gearbeitet. Für seine Reisereportagen wurde er mit mehreren Journalistenpreisen ausgezeichnet. Mit seinem Thrillerdebüt gelangte Linus Geschke aus dem Stand auf die Bestsellerliste, seine Jan-Römer-Serie wurde für die ARD verfilmt. Die psychologischen Thriller »Das Loft« und »Die Verborgenen« standen wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
(Klappentext © Piper Verlag München, 2024)


Wenn sie lügt

Ausgabe: Paperback mit Klappentext (05/24; 416 S.)

Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️


Hass – Leid – Liebe

Waldesroda ist ein kleiner trister Ort in Thüringen, wo ein verschlossener Menschenschlag lebt. Dort ist damals vor neunzehn Jahren ein unfassbares Verbrechen geschehen, das das Leben komplett verändert hat. Diese Vergangenheit hat Auswirkungen auf die Gegenwart.


In zwei verschiedenen Zeitebenen erzählt der Autor abwechselnd aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Zum besseren Verständnis sind die Kapitel jeweils mit »NORAH«, »GORAN« und »ER« übertitelt. Cliffhanger an den Kapitelenden dienen dazu, zum Weiterlesen anzuspornen. Das hat Geschke sehr gut umgesetzt.

Rolaf, Peggy, Marcel, Lisa, Daniel, Norah und Goran sind eine eingeschworene Teenager-Clique. Als sich Norah in den vier Jahre älteren David verliebt, bekommt die Clique erste Risse. David will nicht, dass Norah sich weiter mit ihren Freunden trifft. Aus unerklärlichen Gründen ermordet David ein Liebespärchen und wird kurz nach der Tat und seiner Flucht von der Polizei für tot erklärt. Norah ist fortan nur noch die »Freundin des Killers«. Schweigen nach der Tat bringt die Clique endgültig auseinander.

Weil beide der Vergangenheit entfliehen wollen, zieht Norah nach Dresden und Goran nach Berlin.

Neunzehn Jahre später – Norah ist längst wieder in ihre Heimat zurückgezogen – brechen die alten Wunden wieder auf. Mysteriöse Drohbriefe tauchen plötzlich bei Norah auf. Dort werden Dinge erwähnt, die außer ihr nur noch David wissen konnte. Zudem nennt sie der Briefeschreiber »Äffchen«, so wie David sie liebevoll genannt hatte. Ist es ein Indiz dafür, dass er bei seiner Flucht nicht ums Leben gekommen und jetzt zurückgekehrt ist? Ein spannendes Element, das der Autor hier eingebaut hat.

Auch Goran kehrt aus Berlin zurück. Norahs Mutter Elisabeth, zu der Goran immer ein besonderes Verhältnis hatte, erzählt ihm von den Drohbriefen und bittet ihn, zurückzukommen. Norah und Goran hatten schon immer eine engere Beziehung zueinander, wollten sich dies aber nie eingestehen.

In einer auktorialen Erzählweise wird uns das Leben der Protagonisten Norah und Goran vor neunzehn Jahren und in der Gegenwart als Erwachsene mit Mitte dreißig geschildert. Dazwischen erfahren wir aus den Kapiteln, die mit »ER« beginnen, von einer Person voller Wut und Hass, die sich rächen will. Aber an wem und für was?

Im Laufe der Handlung wird »ER« immer mehr zum zentralen Thema. Norah und Goran versuchen, sie oder ihn ausfindig zu machen. Es kann sich nur um jemanden im näheren Umfeld von Norah handeln. Im Ausschlussverfahren derer, die es sein könnten, wird der Kreis immer kleiner.

Wenn man als aufmerksamer Leser die richtigen Schlüsse zieht, kommt man der Lösung schon bald auf die Spur. Es gibt nur eine Person, die die Drohbriefe geschrieben haben kann, auch wenn Geschke versucht, immer wieder andere Fährten zu legen.


Fazit:

Nach »Das Loft« (2022) und »Die Verborgenen« (2023) ist dies der dritte Stand Alone-Thriller von L. Geschke. Wie man hört, will der Autor sich demnächst wieder einer neuen Reihe widmen.
Die Charaktere der einzelnen Figuren sind sehr gut ausgearbeitet. Das trifft in erster Linie auf Norah und Goran zu.
Was in diesem Thriller weiterhin auffällt, ist die Tatsache, dass wir keine polizeilichen Ermittlungen haben, geschweige denn ein Ermittlerteam – lediglich ein oder zweimal wird ein Polizeieinsatz am Rand erwähnt.
Eingefügte Absätze mit Fallzahlen aus der Kriminalstatistik sind interessant und aufschlussreich. Das hat mir sehr gut gefallen.
Leider konnte mich das Setting nicht ganz überzeugen.  Eingefügte Plot-Twists hätten die Handlung bereichert. Von der Dynamik her ist »Wenn sie lügt« nicht der stärkste Stand-Alone des Autors.

Donnerstag, 13. Juni 2024

Carter, Chris – Der Totenarzt

Über den Autor

Chris Carter wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang als Kriminalpsychologe für die Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Seine Thriller um Profiler Robert Hunter sind allesamt Bestseller.
(Innenseite © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024)


Der Totenarzt

Ausgabe: Taschenbuch (05/24; 432 S.)

Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️


Das Böse ist immer und überall

Dies ist bereits der 13. Fall für Hunter und Garcia. Einleitend erfahren wir, dass diese Geschichte durch wahre Begebenheiten inspiriert wurde. Aber dann ist man schon mittendrin. Der Autor hält sich nicht lange mit Füllpassagen oder langatmigen Erläuterungen auf.


Was zunächst wie ein Verkehrsunfall mit Todesfolge aussieht, erweist sich als ein gut getarnter Mord. Das Opfer, der 46 Jahre alte Shaun Daniels, landet durch einen Zufall in der Rechtsmedizin. Dr. Carolyn Hove entdeckt bei der Autopsie Spuren, die eine andere Todesursache vermuten lassen.

Bei einem weiteren Opfer spielt ebenfalls Kommissar Zufall eine Rolle. Der 38 Jahre alte Terry Wilford ist allem Anschein nach von einer Brücke in den Tod gesprungen. Das Opfer landet im Sektionssaal zur Leichenbeschau, die zu Übungszwecken von Studenten durchgeführt wird. Bei diesem Opfer werden Spuren von Misshandlungen und Folter entdeckt, die ebenfalls nicht auf einen Suizid hinweisen.

Bei beiden Opfern gibt es Parallelen. Sie leben allein und haben kaum soziale Kontakte. Bei den weiteren Ermittlungen stellt sich heraus, dass sie nicht immer Einzelgänger waren und eine dunkle Vergangenheit aufweisen. Könnte das ein Schlüssel für die Taten sein?

Das ruft das LAPD auf den Plan. Die Detectives Robert Hunter und Carlos Garcia gehören der Spezialeinheit UV-Unit (Special Victims Unit) des Raub- und Morddezernats beim LAPD an. Sie befassen sich mit außergewöhnlichen Mordfällen. Sie sind ein eingespieltes und perfektes Team, was auch ihre Vorgesetzte Captain Blake zu schätzen weiß. Genau genommen, besteht dieses Team nur aus Hunter und Garcia.

Hunter besitzt eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Garcia stellt bei Zeugenbefragungen und Verhören von Verdächtigen meistens die Fragen und Hunter hört lediglich zu, um aus den Antworten die richtigen Schlüsse zu ziehen. Auch in brenzligen oder fast aussichtslosen Situationen legt Carter seinen Protagonisten coole Sprüche und humorvolle Dialoge in den Mund. Das mildert die Grausamkeit zumindest etwas ab. Das hat mir gefallen und beide Detectives waren mir von Anfang an sympathisch.

Zunächst jagen sie einem Phantom hinterher und es fällt schwer, die richtigen Ansätze zu finden. Fragen über Fragen tauchen auf. Warum tötet der Mörder auf diese Weise – ist er traumatisiert? Gibt es noch weitere Opfer, die in dieses Schema passen? Handelt es sich um einen psychopathischen Arzt oder hat er zumindest medizinische Kenntnisse? Sucht er seine Opfer wahllos aus oder nach bestimmten Kriterien? Gibt es etwas in seiner Vergangenheit, das ihn verfolgt und antreibt?

Wie abgrundtief böse muss ein Mensch sein, um solche Taten auszuführen. Aber der Täter ist auch gerissen, sonst würde er die Morde nicht als Suizid tarnen, um unerkannt zu bleiben.

Der Grund, warum er die Morde als Suizide darstellt, ist bei genauerer Betrachtung simpel. Leichen mit offensichtlichen Todesursachen wie z.B. Verkehrsunfällen oder Suiziden wandern in der Obduktionsliste ganz nach unten. Sie genießen keine Priorität, denn die Todesursache steht offensichtlich fest. Und landen sie bei Studierenden der forensischen Fakultät, wird bei der Autopsie meistens nur die vordergründige Todesursache erkannt.


Fazit:

Wie eingangs der Rezension bereits erwähnt, ist die Geschichte an wahre Begebenheiten angelehnt, wenn die Erzählung auch fiktiv ist. Erfahrungen aus seinem forensischen Psychologiestudium lässt Carter gekonnt einfließen.
Der Schreibstil ist flüssig, Cliffhanger an den Kapitelenden halten die Spannung auf einem hohen Niveau. Das Setting ist zu keinem Zeitpunkt langatmig. Man fiebert mit, damit diese abscheulichen Taten endlich aufgeklärt werden und ist auf die Auflösung gespannt.
Die grafische Gestaltung des Covers ähnelt in seiner Aufmachung den meisten anderen Bänden aus dieser Reihe, aber ich kann keine Assoziation zum Inhalt herstellen. Das hat aber nicht meine Bewertung beeinflusst, es ist eine reine Feststellung meinerseits.
Dieses Buch kann ich ohne Übertreibung als Pageturner weiterempfehlen. Deshalb gibt es von mir fünf Sterne.

Montag, 3. Juni 2024

Calden, Saskia – Der Puppenwald

Über die Autorin

Saskia Calden wurde 1977 im Berchtesgadener Land geboren. Ihre Leidenschaft für das Schreiben und Erzählen von Geschichten entstand schon in der Kindheit. Seit eine ihrer Kurzgeschichten dem Nachbarsjungen eine schlaflose Nacht bescherte, war ihr Eifer geweckt. Ihr Debüt »Der stille Feind« wurde für den Deutschen Selfpublishingpreis nominiert. Ihr zweiter Psychothriller »Die Rachsüchtige« landete auf Platz 1 der Amazon Kindle Charts.
(Innenseite © Saskia Calden, Edition M Verlag, 2024)


Der Puppenwald

Ausgabe: Taschenbuch (02/24; 381 S.)

Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️


Das Horrorhaus im Schwarzwald

Für Hauptkommissarin Evelyn Holm ist es der erste Fall nach ihrem Wechsel in den Schwarzwald. Vor sechs Jahren musste sie einen Fall beim LKA in Stuttgart abgeben, nachdem ihr eine Ermittlung zu sehr an die Psyche gegangen war. Jetzt will sie sich in Freiburg profilieren und ihre Diensttauglichkeit unter Beweis stellen.


Kommissar Achim Bolte hat bisher die Ermittlungen im Entführungsfall »Jessica« geleitet und steht Evelyn Holm von Anfang an abweisend gegenüber. Sein Verhalten kann man nachvollziehen. Warum musste er die Leitung abgeben? Die beiden anderen Polizisten im Team, Hannes und Tarek, wirken verunsichert und wissen nicht, wem sie zuarbeiten sollen – nach wie vor Bolte oder Holm.

In der Ich-Erzählform »Vorher« erfahren wir von der mittlerweile sechzehnjährigen Jessica, wie ihr tägliches Leben als »Puppe« nach ihrer Entführung abgelaufen ist. In der Ich-Erzählform »Nachher« befragt Hauptkommissarin Holm Jessica zu ihren Leiden und Ängsten. Bei diesen Befragungen zeigt Holm sehr viel Empathie im Gegensatz zu Bolte.

Während ihrer Gefangenschaft musste Jessica fürchterliche Demütigungen ertragen. Als Beispiel sei erwähnt, dass Claras Vater Jessica den Kopf kahl geschoren und ihr eine gelbe Perücke aufgeklebt hat, weil seine Tochter eine Puppe mit blonden Haaren haben wollte. Jessica war Claras Marionette, die alles machen musste, was Clara von ihr verlangte. Sie konnte sehr gemein sein, wenn Jessica nicht das tat, was Clara wollte. Sie schrie dann und sagte es ihrem Vater, der drastische Strafen gegen Jessica verhängte.

Was mich bei den Befragungen durch Holm und Bolte stutzig und nachdenklich gemacht hat ist die Tatsache, wie sachlich und emotionslos Jessica von ihrem über einen längeren Zeitraum erlittenen Leid erzählt. Wie kann eine Sechzehnjährige das wegstecken, ohne kaum eine Gefühlsregung zu zeigen? Allerdings änderte das nichts daran, dass ich Mitgefühl mit Jessica hatte.

Drei Fluchtversuche scheiterten, bis sie beim vierten Mal endlich dem Entführer entkommen konnte und am Fuße des Feldbergs an einer Haustür geklopft hat. Jessica hat ihr Zuhause in einem Kinderheim, wohin sie zurückgebracht wird. Ihr Vater lebt nicht mehr und ihre Mutter wird schon lange vermisst.

In eingeschobenen Passagen erfahren wir etwas über das Privatleben der beiden Kommissare. Boltes Sohn Marlon sitzt seit sieben Jahren unschuldig im Gefängnis, weil er wegen einer Liebesromanze eine Dummheit begangen hat. Empfindet er seine berufliche Zurücksetzung deshalb als weiteren Tiefschlag?

Holm und ihr Mann Nikolas führen augenscheinlich eine glückliche Ehe. Sie sprechen oft gemeinsam über ihre Fälle. Doch im Entführungsfall Jessica ist alles anders. Ständig fragt Nikolas nach dem Stand der Ermittlungen. Er bedrängt Evelyn fast, den Fall abzugeben. Es kommt sogar zum Streit zwischen den Beiden. Was steckt dahinter?

Im weiteren Verlauf wird intensiv nach dem Entführer und dessen Tochter Clara sowie nach der vermissten Mutter von Jessica gefahndet. Die Ermittler ziehen nun gemeinsam an einem Strang. Nach und nach fügen sich die Ermittlungen wie Teile bei einem Puzzle zusammen. Wir werden erfahren, dass vielmehr dahintersteckt, als man zunächst vermutet.


Fazit:

Dieser Thriller ist mit Überlegung aufgebaut und gut durchdacht. Die ganzen Aussagen von Jessica während ihrer Gefangenschaft wirken wie ein inszeniertes Kammerspiel.
Nach zwei Dritteln gibt es einen kurzen »Hänger«. Man muss denken, dass die Lösung in greifbarer Nähe ist. Aber das ist es keinesfalls. Danach steigt die Spannung wieder und es kommt zu einem kaum für möglich gehaltenen Twist.
Das Buch hatte für mich eine regelrechte Sogwirkung. Saskia Calden ist eine wunderbare Erzählerin. Wenn man dieses Buch gelesen hat, weiß man, was ich damit sagen will.
Ein völlig unerwartetes Ende, womit ich nicht gerechnet habe, lässt mich fast sprachlos zurück. Auch der zuvor erwähnte »Hänger« ändert nichts an meiner Meinung, dass ich eine klare Leseempfehlung mit fünf Sternen vergebe.