Samstag, 27. Juli 2024

Robotham, Michael – Der Erstgeborene

Über den Autor

Michael Robotham wurde 1960 in New South Wales, Australien, geboren. Er war lange Jahre als Journalist für große Tageszeitungen und Magazine in London und Sydney tätig, bevor er sich ganz seiner eigenen Laufbahn als Schriftsteller widmete. Mit seinen Romanen stürmt er regelmäßig die Bestsellerlisten und wurde bereits mit mehreren Preisen geehrt, unter anderem zweimal mit dem renommierten Gold Dagger (eigene Anm.: Der »Golddolch« ist ein Belletristikpreis für den besten Kriminalroman des Jahres). Michael Robotham lebt mit seiner Familie in Sydney.
(Klappentext © Goldmann Verlag München, 2022)


Der Erstgeborene

Ausgabe: Paperback mit Klappentext (12/22; 496 S.)

Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️


Mord und Vergebung

Vor zwanzig Jahren hat Elias Haven seine Eltern sowie seine beiden Zwillingsschwestern getötet. Nur durch einen Zufall blieb sein jüngerer Bruder Cyrus verschont. Angeblich hat Elias damals Stimmen in seinem Kopf gehört. Bei ihm wird eine paranoide Schizophrenie, sowie eine antisoziale und narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Er wird in eine psychiatrische Anstalt in Rampton (psychiatrisches Hochsicherheitskrankenhaus in Nottinghamshire) eingeliefert.


In einer Art Trauma und Verzweiflung trank Cyrus Haven, nahm Drogen, hat gestohlen und mutwillig Sachen zerstört. Er hat sich sogar geritzt. Später hat er sich aber wieder gefangen und ein Studium zur forensischen Psychologie erfolgreich abgeschlossen.

Zwanzig Jahre später stellt Elias einen Antrag, um aus der Anstalt in Rampton entlassen zu werden. Er ist davon überzeugt, dass er geheilt ist. Da er gut mit Medikamenten eingestellt ist, unterstützt sein Arzt Dr. Baillie den Antrag. Cyrus will seinem älteren Bruder Elias vergeben. Dazu darf Elias zunächst zur Probe tageweise und als nächsten Schritt mit Übernachtungsbesuchen die Anstalt mit einer elektronischen Fußfessel verlassen.

Da gibt es aber auch noch jemand anderes im Leben von Cyrus. Er hat die Vormundschaft für Evie Cormac anstelle der Eltern übernommen, die aus unterschiedlichen Gründen kein Sorgerecht mehr haben. Evie ist aufmüpfig, aufbrausend und anti-sozial eingestellt. Auf der anderen Seite ist sie eine taffe junge Frau von 21 Jahren, die die Gabe hat zu erkennen, ob Menschen lügen oder die Wahrheit sagen.

Dr. Cyrus Haven unterstützt die Polizei in Nottingham bei der Aufklärung von Straftaten. In einem aktuellen Fall geht es um den Tod des 67-jährigen Rohan Kirk, der brutal erschlagen in seinem Wohnzimmer liegt. Seine Tochter Maya ist verschwunden und Dr. Haven glaubt, dass sie entführt wurde. Später findet ein Bauer die Leiche von Maya in der Nähe von Newstead Abbey.

In den Strudel von Ermittlungen gerät auch Evie, als sie eines Abends meint, den Mörder von Maya erkannt zu haben. Damit bringt sie sich und Cyrus in große Gefahr. Plötzlich ist nicht nur sie, sondern auch Elias verschwunden.

In einer stillgelegten Fabrikhalle spitzt sich dann alles zu und wir erfahren, wer hinter den Taten steckt. Wie geht es mit Elias weiter, da er sich trotz seiner elektronischen Fußfessel von seinem genehmigten Aufenthaltsort in Cyrus‘ Haus entfernt hat? Muss er dauerhaft zurück in die psychiatrische Anstalt?


Fazit:

Aus jeweils in sich abgeschlossenen Kapiteln erfahren wir Details über die beiden Protagonisten Cyrus und Evie. Cyrus ist sehr empathisch und will Menschen helfen, wo er kann. Evie ist eine schwierige Person mit sehr starken Gemütsschwankungen.
Das hat Robotham sehr gut herausgearbeitet. Diese beiden Figuren habe ich trotz ihrer Schwächen als sympathisch empfunden.
Es geht neben Mord um Entführung sowie Vermisstenfällen und Strafverfolgung wegen Falschbehandlung im Krankenhaus mit Todesfolge. Viele Handlungsstränge machen den Plot unübersichtlich, auch wenn sie zum Ende hin gekonnt zusammengefügt werden.
Mich hat das Setting nicht überzeugt. Bei einigen Passagen habe ich die Entwicklung und den Verlauf des Geschehens vermisst. Ich komme daher nur auf drei Sterne.

Montag, 15. Juli 2024

Winkelmann, Andreas – Hast du Zeit?

Über den Autor

In seiner Kindheit und Jugend verschlang Andreas Winkelmann die unheimlichen Geschichten von John Sinclair und Stephen King. Dabei erwachte in ihm der unbändige Wunsch, selbst zu schreiben und andere Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Heute zählen seine Thriller zu den härtesten und meistgelesenen im deutschsprachigen Raum. In seinen Büchern gelingt es ihm, seine Leserinnen und Leser von der ersten Zeile an in die Handlung hineinzuziehen, um sie dann gemeinsam mit seinen Figuren in ein düsteres Labyrinth zu stürzen, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt.
Die Geschichten sind stets nah an den Lebenswelten seines Publikums angesiedelt und werden in einer klaren, schnörkellosen Sprache erschreckend realistisch erzählt. Der Ort, an dem sie entstehen, könnte ein Schauplatz aus einem seiner Romane sein: der Dachboden eines vierhundert Jahre alten Hauses am Waldesrand in der Nähe von Bremen.
(Klappentext © Rowohlt Verlag Hamburg, 2024)


Hast du Zeit?

Ausgabe: Taschenbuch mit Klappentext (06/24; 416 S.)

Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️


Nur die Zeit ist unser


»Alles ist fremdes Eigentum, nur die Zeit ist unser«. Dieses so flüchtige, so leicht verlierbare Gut ist der einzige Besitz, in den uns die Natur gesetzt hat, und doch verdrängt uns daraus, wer da will.« (Zitat aus den Schriften des römischen Philosophen Lucius Annaeus Seneca – 1-65 n.Chr.).


In dem Thriller »Hast du Zeit?« befasst sich Andreas Winkelmann sehr intensiv mit dem Thema »Zeit«. Der Täter beschwert sich darüber, dass ihm die Zeit »gestohlen« wurde. Er will sich rächen und ist bereit, dafür zu töten. Nach welchen Kriterien wählt er die Personen aus? Das ist aus meiner Sicht ein skurriler Ansatz. Bei einigen ist es offensichtlich, warum er sie ausgewählt hat. Bei anderen vermissten Personen kann ich keine Verbindung herstellen. Hierzu haben mir die Beweggründe des Täters gefehlt.

Lars Erik Grotheer, ehemaliger Bundestagspolizist und mittlerweile in Rente, sowie Lilly Costanzo lernen wir im weiteren Verlauf näher kennen. Diese beiden Figuren sind die Protagonisten in diesem Thriller. Sie vermissen einen lieben Menschen. Lars Erik, der zu seiner Tochter Michelle Burghardt nach langer »Sendepause« wieder Zugang gefunden hat. Lilly vermisst ihre Lebenspartnerin Felicitas Möller.

In Deutschland werden täglich 200 bis 300 Vermisstenfälle registriert. In den meisten Fällen sucht die Polizei nicht nach diesen Menschen, da kein konkreter Verdacht vorliegt. Daher ermitteln Grotheer und Costanzo zunächst auf eigene Faust und stoßen dabei auf weitere Vermisstenfälle. Kein Motiv und keine Verbindung zu den vermissten Personen sind erkennbar.

Bei Angehörigen von einigen Vermissten tauchen Sanduhren auf. Was hat das für eine Bedeutung? Die Angehörigen sind irritiert und haben kein gutes Gefühl.

In eingeschobenen Kapiteln, die immer mit der Überschrift »Hinter der Zeit« beginnen, erzählt der Täter in Monologform über seine Gefühlslage. Es dreht sich dabei alles um ein und dieselbe Person: Hannah. Wer ist das – eine Verwandte oder Bekannte? Warum hat er sich immer um sie gekümmert und ihr seine Zeit geopfert? Ist sie krank? Nach und nach kommen wir der Lösung näher. Und plötzlich ist sie nicht mehr da. Ein sehr starkes Setting.

Nicht nur die Gefühle des Täters können wir im weiteren Verlauf besser verstehen und einordnen, auch in die Psyche der Entführten lässt uns der Autor tief blicken. Wir erfahren ein grausames Finale, was auf einen tief traumatisierten und psychopathischen Menschen schließen lässt.

 

Fazit:

Winkelmann hat als Grundlage für seinen Thriller ein Thema (Zeit) gewählt, dass zum Nachdenken anregt.
Einmal drin in der Handlung – und das geschieht schon auf den ersten Seiten – »fliegt« man durch den Inhalt. Verschiedene Erzählperspektiven sorgen zusätzlich für Spannung, die zum richtigen Zeitpunkt auf die Spitze getrieben wird.
Von Beginn an hat Winkelmann in seinen Kapiteln bei der Leserschaft für Verwirrung gesorgt. Das trifft insbesondere auf das Mitwirken vieler Figuren zu, wobei die meisten keinen Bezug zueinander haben. Das macht es nicht gerade einfach, den Überblick zu behalten.
Bei der Kapitellänge setze ich mehr auf Kontinuität, was hier nicht gegeben ist. Einmal sind sie überschaubar kurz, dann wieder lang. Endet ein Kapitel mit einem Cliffhanger, wünsche ich mir kurze Kapitel zur Fortsetzung des Handlungsstrangs.
Der Schreibstil ist leicht verständlich, flüssig und spannend. Unter Abwägung aller Pluspunkte und der verhalten angebrachten Kritik vergebe ich vier Sterne.

Donnerstag, 4. Juli 2024

Sigurðardóttir, Yrsa – Nacht

Über die Autorin

Yrsa Sigurðardóttir, geboren 1963, ist eine vielfach ausgezeichnete isländische Bestsellerautorin, deren Romane in über 30 Ländern erscheinen. Die Ikone zählt zu den »besten Krimischriftstellerinnen der Welt« (The Times). Ihre faszinierenden Thriller, in denen sie meisterhaft die unbarmherzige Natur Islands beschreibt, werden von Presse und Publikum gleichermaßen geliebt. Ihr letzter Thriller »Schnee« stand monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Reykjavík.
(Klappentext © btb Verlag München, 2023)


Nacht

Ausgabe: Paperback mit Klappentext (08/23; 432 S.)

Meine Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️


Ene, mene, meck – und du bist weg

Nicht nur dieses grausame Verbrechen auf einem ehemaligen Landgut einige Kilometer außerhalb von Reykjavík lässt einem beim Lesen frösteln. Auch die karge Landschaft in einem eisigen Winter mit viel Schnee und langen Nächten. Das bringt uns die isländische Schriftstellerin Yrsa Sigurðardóttir eindrucksvoll näher. Überhaupt die Dunkelheit ist ein Thema in diesem Thriller.


Die fünfundzwanzigjährige Studentin Sóldís wird als Haushaltshilfe angestellt. Sie ist die eigentliche Protagonistin in diesem Thriller. Zunächst macht sie sich keine großen Gedanken darüber, dass zwei Haushaltshilfen vor ihr nach kurzfristiger Tätigkeit wieder gegangen sind. Zu den Eheleuten Ása und Reynir findet sie keinen richtigen Zugang. Ása behandelt sie zuweilen wie eine Leibeigene. Sie bleibt eigentlich nur wegen der beiden Mädchen Íris und hauptsächlich Gígja. Die kleine Gígja fühlt sich gleich zu Sóldís hingezogen.

Was geht vor in diesem gruseligen Anwesen? Dinge verschwinden, verschlossene Türen stehen plötzlich offen, obwohl sie abgeschlossen waren, eine finstere Gestalt steht vor dem Fenster, ein Motorschlitten verschwindet und sogar ein Pferd ist plötzlich nicht mehr im Stall. Sóldís kämpft mit ihren Ängsten und obwohl sie die beiden Mädchen nicht allein zurückzulassen möchte, beschließt sie, zu kündigen und diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Aber da ist es schon zu spät.

Ziemlich früh erfahren wir in diesem Thriller, was auf dem Anwesen passiert ist. Mutter Ása, die beiden Töchter Íris und Gígja sowie die Haushaltshilfe Sóldís werden regelrecht hingerichtet. Wir wissen lange nicht, wer dahintersteckt und warum dies alles geschehen ist. Zunächst verdächtigt die Polizei den Vater Reynir, da er sich nicht unter den Opfern befindet und verschwunden ist.

Ein operativ entfernter Hirntumor hat die Persönlichkeit von Reynir entscheidend verändert. Er ist seitdem unberechenbar und trifft abstruse Entscheidungen. Haben ihn diese Umstände zum Mörder werden lassen?

Die Polizei von Akranes erhält bei der Aufklärung Unterstützung von der Mordkommission in Reykjavík. Týr Gautason, der Neue im Team aus Reykjavík hat ganz eigene Probleme und wird im Laufe der Ermittlungen von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt.

In zwei verschiedenen Zeitebenen erfahren wir in einem chronologischen Ablauf den Stand der Ermittlungen in der Zeit danach. In der Zeit vor den Gräueltaten auf dem Anwesen erfahren wir hauptsächlich aus der Sicht der Haushaltshilfe Sóldís die Geschehnisse.

Die Autorin hat die einzelnen Figuren wunderbar charakterisiert. Das reiche Ehepaar Ása und Reynir hat viele Probleme untereinander, aber auch mit ihren Töchtern Íris und Gígja. Das Verhalten von Ása und Reynir wird immer merkwürdiger und undurchschaubarer. Die Darstellung von Sóldís und Gígja hingegen hat mir diese beiden Figuren sehr sympathisch gemacht und ich habe mit ihnen mitgelitten.

 

Fazit:

Ein düsterer Thriller mit sehr viel Potential und einem sehr starken Setting. Ich habe allerdings einige Zeit benötigt, um mich an den Schreibstil von Sigurðardóttir zu gewöhnen. Das wurde im weiteren Ablauf aber immer besser.
Die Beschreibung der einzelnen Figuren ist ein großes Plus der Autorin. Dass auch Polizisten ihre eigenen persönlichen Probleme haben, wird bei dem jungen Kommissar Týr sehr eindrucksvoll wiedergegeben.
Einige Kommentare oder Vergleiche blähen die Handlung unnötig auf - denn wen interessiert es, dass z.B. die Isländer später zu Bett gehen als die Schweden!? Das bringt keinen Mehrwert für den Plot.
Wer nicht auf eine dynamische Schreibweise oder eine hohe Taktung setzt und trotzdem Spannung erwartet, der kann dieses Buch bedenkenlos lesen. Von mir gibt es vier Sterne.